Gedächtnis Behaltenskurven

Erfahrungen mit Savants zeigen, dass das menschliche Gedächtnis praktisch unbegrenzt Informationen speichern kann. Das riesige Bild (links ein kleiner Ausschnitt mit dem Petersdom) hat ein Savant aus dem Gedächtnis gezeichnet, nachdem er mit einem Hubschrauber über Rom geflogen war.

Es gab und gibt polyglotte Menschen, die nicht weniger als zehn Sprachen so vollständig wie ihre Muttersprache beherrschen. Auch dies weist darauf hin, dass das menschliche Gedächtnis an sich sehr viel speichern kann. Nur meines leider nicht.

Wenn sich jemand über mangelndes Gedächtnis beschwert, geht es häufig nur um mangelnden Abruf aus dem Gedächtnis. Gespeichert ist der Inhalt mit großer Wahrscheinlichkeit.

Von Krankheiten, die das Gedächtnis an sich beeinträchtigen, ist hier überhaupt nicht die Rede, weil sie am Gymnasium selten vorkommen und dann medizinischer, nicht pädagogischer Beratung bedürfen.

Was also Normalsterbliche wie Sie und ich tun können, ist den Abruf zu üben, zu verbessern.

In der Tat sind hier für viele Menschen trainierbare Möglichkeiten des schnelleren und sichereren Abrufs verborgen. Weshalb "verborgen"?

Heutzutage ist das Auswendiglernen in der pädagogischen und didaktischen Literatur verpönt, obwohl immer noch Prüfungserfolge in den meisten Schulfächern und Studienfächern zu mehr als 60 Prozent vom schnellen und sicheren Abruf aus dem Gedächtnis abhängen. Erfahrene Prüfer halten den Prozentsatz für noch weit höher.

Der Schülerglaube, man könne in beliebig kurzer Zeit beliebig viel lernen, erzeugt enorme Frustration, wenn man dann in der Klassenarbeit versagt, und dieser Aberglaube macht das Lernen zu einer auf Dauer ungeliebten Angelegenheit. "Ich habe gestern 5 Stunden gelernt und heute in der Arbeit nur eine 4 geschrieben."

Dass Auswendiglernen richtig Spaß machen kann, wissen nur sehr wenige Schüler. Es hängt nämlich auch vom richtigen Timing ab.

Die Abrufbahnen im Gehirn müssen richtig gebahnt werden, und das braucht Zeit.

Was ich im Moment abrufen kann, weil ich das Heft durchgeschaut habe, ist noch lange nicht das, was ich morgen in der Klassenarbeit abrufen kann.

Deshalb sollte man die eigenen Aufschriebe vor allem benutzen, um Karteikärtchen zur Selbstabfrage zu schreiben, wochenlang vor der Klassenarbeit.

Dann sollte man sich diese Kärtchen kurzfristig und mittelfristig abfragen. Sobald man die Antwort gesehen hat, ist eine korrekte Abfrage kein Zeichen dafür, dass man es jetzt gelernt hat, weil die Antwort aus dem Arbeitsgedächtnis oder dem Tagesgedächtnis geholt wird und nicht aus dem Langzeitgedächtnis. Es ist nicht möglich, etwas an einem Tag so zu lernen, dass es langfristig abrufbar ist.

Das Arbeitsgedächtnis ist so klein, dass nur ungefähr sieben Dinge hineinpassen, während im Langzeitgedächtnis Tausende Inhalte schlummern. Während einer Klassenarbeit müssen Schüler ihr Arbeitsgedächtnis sehr oft, teilweise oder ganz, fehlerlos und schnell überschreiben können. Beim Korrigieren sieht man, dass dies für viele das Hauptproblem, der Flaschenhals ist.

Das Tagesgedächtnis (= das, was ich vom Vortag noch weiß) ist etwas größer, aber bestimmt nicht ausreichend für den Stoff einer Klassenarbeit, der sich über die behandelten Inhalte von mindestens 6 Schulwochen erstreckt.

Je mehr in der Schule aufgeschrieben wird, umso mehr bekommt der Schüler Angst davor, dass er sich das alles sowieso nicht merken kann und drückt sich davor, diese Inhalte rechtzeitig zu verinnerlichen.

Auch deshalb ist es ganz wichtig, kleine Häppchen des Lernstoffs auf Karteikärtchen in höchstens Kreditkartengröße zu verteilen. Dann kann man bei jeder Serie von Selbstabfragen zwei Haufen machen: die Kärtchen, deren Antwort man gewusst hat, und die, bei denen die Antwort vollständig oder teilweise nicht aus dem Gedächtnis abrufbar ist.

Schüler berichten, dass es Spaß macht zu erleben, wie bei Abfrageserien an verschiedenen Tagen mit jeweils allen Kärtchen der nicht gewusste Haufen kleiner wird. Das sind richtige Erfolgserlebnisse.

Wer keine Lerngewohnheit entwickelt, wer nicht täglich oder fast täglich Abfrageserien mit sich selbst, mit einem Schulfreund oder mit einem Erwachsenen veranstaltet, wird nie Spaß am Lernen gewinnen.

Da weltweit von vielen Nationen das lebensbegleitende Lernen angesagt ist, geht es um nicht weniger, als sich für Jahrzehnte Frust oder Lust zu verschaffen. Auch Deutschlands Bundeskanzlerin Frau Merkel hält Lernen für eine Bürgerpflicht.

Unter Anderem wegen des KuMiLa-Problems schaffen es viele Menschen nicht, diese Frustquelle und Frustschwelle zu überwinden und leiden ewig daran.

Während man für das Abitur in einer einzigen Fremdsprache Tausende (s. u.) von Vokabeln zur Verfügung haben sollte, um gut abzuschneiden, sind es in Mathematik weniger als 1000 Begriffe, Symbole, Zusammenhänge, die abrufbereit sein sollten, um hervorragende Ergebnisse zu erzielen.

Gedächtnisforschung gibt es seit Jahrtausenden. Über fast nichts wissen die externen Speicher der Menschheit besser Bescheid als über das Gedächtnis. Nur Schüler wissen es nicht.

Antike Rhetoren berichten über Simonides von Keos (-557f:-468f) als dem Vater der Loci-Methode. Der ausgebildete Redner bedarf eines guten natürlichen oder künstlichen Gedächtnisses, das in der Strukturkette eines Redeaufbaus (inventio, dispositio, elocutio, memoria, pronunciatio) von alters her unverzichtbar ist.

So langsam kommt man wieder drauf, dass man die Redekunst, eines der drei ältesten Schulfächer überhaupt, nicht vollständig vernachlässigen darf, und verlangt von Schülern pro Schuljahr mindestens ein Referat oder eine gleichwertige Leistung, die so stark benotet wird wie eine Klassenarbeit. Es kommt vor, dass Schüler eine solche Präsentation fast vollständig ablesen.

Die kognitive Psychologie, die mit den Selbstversuchen von Hermann Ebbinghaus (1850:1909) ein empirisch nachprüfbares Niveau erreicht hat, untermauerte viele, in Antike, Mittelalter und Renaissance offenkundige Fakten und fügte massenhaft neue Erkenntnisse über die Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses hinzu.

Hier nur ganz wenige praktische Punkte, deren Nichtbeachtung im Schulalltag besonders auffällt:


  1. Vergessen ist kein Versagen, keine Krankheit, sondern normal. Ich darf nicht damit rechnen, dass ich mir etwas merke, sondern dass ich es vergesse.
  2. Vergessen kann reduziert werden durch periodisch wiederholtes Abfragen (Karteikärtchenmethode) mit sicherem Wissen.
  3. Stupides Wiederholen (Wiederlesen) ohne vorherige Abfrage verhindert Lernen mit Sicherheit.
  4. Solange Lernen keine persönliche Gewohnheit ist, wird Lernen immer als negativ, belastend, störend empfunden.
  5. Arbeitsgedächtnis und Langzeitgedächtnis sind grundverschieden. Das Arbeitsgedächtnis ist winzig und muss sehr schnell (in Sekundenbruchteilen) mit neuen Inhalten überschrieben werden können. Schüler missbrauchen häufig das Arbeitsgedächtnis als Langzeitgedächtnis.
  6. Der sichere Abruf aus dem Langzeitgedächtnis braucht Zeit (Wochen, Monate).
  7. Der sichere Abruf aus dem Langzeitgedächtnis braucht viele Selbstabfragen unter möglichst verschiedenen Umgebungen (zuhause, im Bus, im Wartezimmer, im Klassenraum, auf dem Sofa beim Fernsehen, auf dem Flur, auf der Wiese im Freibad, auf der Parkbank, sitzend, stehend, liegend, usw.), denn die Umgebung wird immer mit abgespeichert. Eine Umgebungsänderung bei der Abfrage darf das Abfrageergebnis aber nicht beeinflussen.
  8. Jeglicher Listen-Lernstoff kann durch Kompression zu wenigen Worten oder Silben leichter gelernt werden und durch Expansion wieder entfaltet werden.

Hier ein Beispiel für Kompression, indem die obigen Punkte auf ganz Weniges zusammengepresst werden. Jede Kompression ist personenabhängig. Machen Sie deshalb von Lernstoffen Ihre eigene, persönliche Kompression!


  1. Vergessen normal, Behalten Ausnahme.
  2. Periodische Selbstabfrage
  3. Abfragen statt wiederholt lesen
  4. Gewohnheitsbildung
  5. Arbeitsgedächtnis `!=` Langzeitgedächtnis
  6. Langzeitgedächtnis braucht Zeit
  7. Umgebungshemmung verhindern
  8. Kompression und Expansion

Wenn Sie mit dem zweiten Kasten den ersten Kasten nicht reproduzieren können, sollten Sie andere Kompressionen wählen, die Ihrer Person besser entsprechen.

Die nächste Stufe der Kompression für einen Vortragenden wäre es, diese 8 Punkte extrem abzukürzen, indem von jedem Punkt nur eine Silbe genommen wird:

VePeAbGeArLaUmKo,

leichter lesbar und leichter merkbar durch Bildung von 4 "Wörtern":


  VePe   AbGe   ArLa   UmKo  

Es macht Spaß, aus diesen 4 Kunstwörtern den Inhalt des ersten großen Kastens sinngemäß zu reproduzieren, ohne von irgendwelchen Zetteln abzulesen. Es ist leicht möglich, diese 4 Kunstwörter zu einem Zeitpunkt im Arbeitsgedächtnis zu haben, nicht aber den großen ersten Kasten. Das ist ein winziges Bruchstück der Kunst des künstlichen Gedächtnisses.

Lernen beinhaltet weit mehr als Auswendiglernen. Hier geht es aber ausschließlich darum, was der Schüler selbständig machen kann und soll. Die anderen wichtigen Kompetenzen wie Analysieren, Verstehen, Extrahieren, Problemlösen, Methoden wählen, Gruppenarbeit, Informationsbeschaffung, nachvollziehbar Darstellen, Präsentieren, und viele andere mehr werden im Unterricht mit der Lehrkraft zusammen entwickelt, aber hier nicht erörtert.

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Der ministerielle Bildungsplan 2004 für das allgemein bildende Gymnasium gibt vor, dass die Kursstufe in Baden-Württemberg im Englischunterricht in der Kursstufe (Jahrgangsstufe 11 und 12 in G8) das Niveau B2 des "Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen" erreicht, sogar teilweise das Niveau C1 (S. 109).

Der renommierte Sprachenverlag Langenscheidt hält für die Niveaustufe A1 bis B2 einen englischen "Grundwortschatz mit über 9000 Einträgen und modernen Beispielsätzen" für notwendig oder sinnvoll. Im Englisch-Abitur sollte aber mehr gekonnt werden ("teilweise das Niveau C1").

Laut "Grund- und Aufbauwortschatz" Englisch des großen Schulbuchverlags Klett reichen 4000 Wörter im Grundwortschatz für das Niveau B2 nicht aus. Deshalb enthält der Aufbauwortschatz im gleichen Buch weitere 3000 Vokabeln.